„Meine Eltern begriffen eines Tages, dass ich auf dem Weg war, magersüchtig zu werden. Sie redeten auf mich ein, ich solle wieder normal essen, schleiften mich zum Hausarzt, in eine Beratungsstelle. Mein Vater hielt lange Monologe, meine Mutter brach pausenlos in Tränen aus, aber sie konnten mich nicht erreichen. Ich hatte endlich etwas gefunden, was nur mir gehörte, mir ganz allein. Ich sagte mir immer wieder, mein Körper gehört mir, ich kann damit machen, was ich will. Meine Eltern wussten mein Leben lang, was gut für mich ist und richtig. Pfuschten ständig in mein Leben hinein. Ich hatte nichts Eigenes, nichts, was nur mir allein gehörte. Es gab keine Grenzen, keine Individualität. Meine Eltern hielten uns für eine tolle Familie. Sie nannten es Vertrauen, wenn sie alles von mir wissen wollten und alles von mir zu wissen glaubten. Ich hätte mir gewünscht, dass ich es nicht nötig gehabt hätte, eine lange Zeit in meiner Krankheit etwas Großartiges, Einmaliges zu sehen. Eine Krankheit, die mir beinahe zum Verhängnis geworden wäre und in die ich mich immer weiter reingehungert habe, nur um mich zu finden und um allein zu sein. Ich finde es gut, wenn man sich in einer Familie umeinander kümmert. Aber ich finde gut, wenn die Intimsphäre des anderen respektiert wird und Eltern früh begreifen, dass sie ihr Kind nicht besitzen, sondern dass es ein eigenständiges Wesen ist.“
Abb.: ehem. Patientin des TCEforum
Über den Autor/ die Autorin
Dr. Gerlinghoff / Dr. Backmund und Patientinnen
aus: „Schlankheitstick oder Eßstörung? Ein Dialog mit Angehörigen“ (Gerlinghoff/Backmund und Patientinnen, dtv 1999)